Rund 15 Prozent der Bevölkerung weltweit erkranken mindestens einmal im Leben an einer Depression. In etwa einem Drittel der Patientinnen und Patienten helfen antidepressive Wirkstoffe aus der Gruppe der sogenannten selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRIs) gut, ein weiteres Drittel zeigt relevante Verbesserungen. Ein Wiener Forscherteam ist der Frage nachgegangen, ob diese Antidepressiva die Lern- und Aufnahmefähigkeit verbessern. Die Ergebnisse einer Doppelblind-Studie zeigen: SSRIs erhöhen die Neuroplastizität. Das Wissen um diesen Ansatzpunkt im Gehirn kann helfen, andere oder schneller wirksame Antidepressiva zu entwickeln.

Babys saugen Umwelteinflüsse in sich auf und nutzen sie, um zu lernen. Nie mehr im Leben ist unser Gehirn so aufnahmebereit und verdrahtungswillig. Neuroplastizität heißt diese Fähigkeit des Gehirns, sich anzupassen, Neues zu verarbeiten und Aufgaben umzuverteilen, etwa wenn es zu einer körperlichen Einschränkung oder Sinnesbehinderung kommt. Am anderen Ende dieser Aufnahmefreudigkeit stehen Menschen mit einer klinischen Depression, wie sie bei rund 15 Prozent der Gesamtbevölkerung mindestens einmal im Leben auftritt. „Sie sind niedergeschlagen, antriebslos, wie psychisch gelähmt, und manche werden deswegen lebensmüde“, beschreibt Rupert Lanzenberger, Leiter des Neuroimaging Lab der Universitätsklinik für Psychiatrie an der Medizinischen Universität Wien, das Krankheitsbild.

Sogenannte SSRIs, kurz für selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, gehören zu den häufig verschriebenen Antidepressiva. Sie wirken in der Regel nach einigen Wochen und zeigen wenige Nebenwirkungen. Wie genau die Medikamente im Gehirn das Neurotransmitter-Regime und neuronale Netzwerke verändern, war bisher nur teilweise im menschlichen Gehirn erforscht. Gefördert vom Wissenschaftsfonds FWF wurde nun an der Medizinischen Universität Wien eine Doppelblind-Studie an Gesunden durchgeführt. Mit bildgebenden Verfahren ist es einem Team um Projektleiter Lanzenberger gelungen zu zeigen, dass SSRIs die Neuroplastizität ankurbeln und so bestimmte Lernprozesse im Gehirn erleichtern. Das eröffnet neue Möglichkeiten, alternative oder schneller wirksame Medikamente an den Start zu bringen.

Die Umlernschwelle senken

Der Neurotransmitter Serotonin bestimmt mit, was im Gehirn im Laufe des Lebens gespeichert oder verändert werden soll. Verschiedene Tierversuche unterstützen die Theorie, dass SSRIs die Schwelle dafür absenken und so die Neuroplastizität erhöhen: „Im Prinzip kann jedes Gespräch die Mikrostruktur unseres Gehirns verändern, und Serotonin moduliert im Gehirn, wie stark dieses auf Umgebungsreize neuroplastisch reagiert. Bei Erwachsenen wird nicht mehr jede Erfahrung so leicht abgespeichert, folglich ändern sich die neuronalen Mikrostrukturen des Gehirns nicht mehr so wie bei Kindern und Jugendlichen. Aber wenn sich beispielsweise unser Arbeitsweg durch eine Baustelle verändert, müssen wir darauf reagieren. Wir lernen um, indem wir uns einen neuen Weg einprägen“, erklärt der Projektleiter.

Um nun zu untersuchen, ob Antidepressiva im Vergleich zu einem Placebo den Umlernprozess befördern, führte das Team um Rupert Lanzenberger eine sechswöchige Doppelblind-Studie mit 80 gesunden Probandinnen und Probanden durch. Mittels Magnetresonanztomografie wurden die Mikrostruktur, die funktionelle und strukturelle Konnektivität sowie die Interaktion und Aktivität von Gehirnarealen gemessen, die bei Gedächtnisprozessen von besonderer Bedeutung sind, wie etwa der Hippocampus und die Insula. Darüber hinaus wurde mit Magnetresonanzspektroskopie die Konzentration des wichtigsten erregenden Neurotransmitters, Glutamat, und des wichtigsten hemmenden Neurotransmitters, Gamma-Aminobuttersäure, in verschiedenen Gehirnregionen quantifiziert.

Wesentlicher Wirkmechanismus bestätigt

Zunächst wurden bei allen Probandinnen und Probanden die unbeeinflusste Vernetzung und die Aktivität der betreffenden Gehirnareale als auch die Konzentration von Neurotransmittern in einer Ausgangsuntersuchung gemessen. Anschließend lernte eine Gruppe täglich in einer konzentrierten Aufgabe, unbekannte Gesichter paarweise zusammenzuführen, und die andere Gruppe, chinesische Schriftzeichen mit Worten zu verknüpfen. Nach einer Vergleichsmessung begann die Einnahme von SSRIs oder Placebos über drei Wochen samt begleitendem Umlernprogramm mit neuen Gesichtspaaren und Zeichen-Wort-Paaren. Abschließend erfolgte eine dritte Messung.

Die Hypothese der Forschenden hat sich bestätigt: SSRIs bewirken, dass neue Zusammenhänge leichter gespeichert werden, wie die sichtbaren Veränderungen im Gehirn belegen. „Die Erhöhung der Neuroplastizität ist ein wesentlicher Wirkungsmechanismus von SSRIs“, betont Rupert Lanzenberger. Sie drehen das Gehirn sozusagen wieder auf Empfang für neue Verknüpfungen und erleichtern das Lösen von alten. „Letztlich scheint es bei der Therapie der Depressionen auch darum zu gehen, gelernte Zusammenhänge zu lösen und quasi eine neue Sicht auf die Welt zu gewinnen“, beschreibt der Gehirnforscher und ergänzt: „Wir sehen, dass die Medikation bei Depressionen oft nur der erste Schritt ist. Ebenfalls wichtig sind die begleitende Psychotherapie und veränderte Umwelterfahrungen, und diesen Vorgang können wir ebenfalls als eine Art Umlernprozess unter erhöhter Plastizität sehen.“

In der Studie zeigte sich die erhöhte Neuroplastizität bei Gabe von SSRIs im Vergleich zur Kontrollgruppe deutlich: „In den Bildgebungsdaten konnten wir eine veränderte Balance nachweisen. Manche Gebiete werden stärker gehemmt als andere, die Balance zwischen verschiedenen Hirngebieten ändert sich und auch die Stärke der Kommunikation zwischen den Hirnarealen.“ SSRIs wirken also nicht direkt akut auf die Stimmung, sondern verändern die Empfänglichkeit für Umlernprozesse und helfen so unter günstigen Bedingungen aus der Depression heraus. Dieses Wissen kann genutzt werden für andere Substanzen, welche die Neuroplastizität erhöhen und schneller antidepressiv wirken könnten.

Rupert Lanzenberger ist assoziierter Professor für Neurowissenschaften und Mediziner an der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Medizinischen Universität Wien, wo er seit 2005 das Neuroimaging Lab leitet. Er arbeitet mit bildgebenden Verfahren, um molekulare und funktionelle Prozesse im Gehirn sichtbar zu machen, insbesondere bei psychiatrischen Erkrankungen und im Bereich der Psychopharmakologie. Die klinische Studie „Antidpressiva in Kombination mit Lernen fördern Neuroplastizität“ wurde vom Wissenschaftsfonds FWF mit rund 300.000 Euro gefördert. Lanzenberger ist Träger zahlreicher internationaler Forschungspreise und Mitglied der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste (EASA).

Publikationen

Reed MB, Vanicek T, Seiger R, et al.: Neuroplastic effects of a selective serotonin reuptake inhibitor in relearning and retrieval, in: NeuroImage 2021

Spurny B, Vanicek T, Seiger R, et al.: Effects of SSRI treatment on GABA and glutamate levels in an associative relearning paradigm, in: NeuroImage 2021

Spurny B, Seiger R, Moser P, et al.: Hippocampal GABA levels correlate with retrieval performance in an associative learning paradigm, in: NeuroImage 2020


Wissenschaftlicher Kontakt Prof. Rupert Lanzenberger, MD, PD
Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Medizinische Universität Wien Währinger Gürtel 18-20 1090 Wien
T +43 1 40400-35760 (-38250) rupert.lanzenberger@meduniwien.ac.at www.meduniwien.ac.at/neuroimaging

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Gerade im Rettungsdienst ist der Umgang mit depressiven Patienten sehr wichtig. Um sich ein Bild von den Patienten zu machen ist es auch wichtig zu wissen ob und wie Antidepressiva wirken.